Freitag, 10. Juli 2009

Prozessdelegation besucht Stammheim-Prozess














Auf den Aufruf der "Plattform für die Freiheit von Mustafa Atalay" hin besuchte eine internationale Prozessdelegation am 7. Juli 2009 den seit März letzten Jahres laufenden §129b-Prozess in Stuttgart-Stammheim. Den dringenden Anlass für diese Initiative stellt die gesundheitliche Verfassung des Gefangenen Mustafa Atalay dar. Mustafa Atalay kam im Jahr 2000 als politischer Flüchtling nach Deutschland. In der Türkei war er schwer gefoltert worden und ist dort mehr als 15 Jahre im Gefängnis gewesen.

Nur zwei Wochen nach seiner Bypass-Herzoperation im Oktober 2006 wurde Mustafa Atalay in der Rehaklinik Bad Bevensen am 15. November 2006 von BKA-Beamten verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. Durch die Haftbedingungen und die nicht ausreichende medizinische Versorgung sind 2 seiner Herzadern erneut verstopft. Hinzu kommt die retraumatisierende Wirkung der Isolationshaft. Der haftunfähige Gefangene wird dennoch nicht freigelassen - der dritte Antrag auf Haftverschonung wurde vom Senat im April erneut abgelehnt. Die fünf Angeklagten Mustafa Atalay, Hasan Subasi, Ilhan Demirtas, Devrim Güler und Ahmet Düzgün Yüksel sind angeklagt, Mitglieder der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front DHKP-C zu sein. Dieses Verfahren ist der erste §129b-Prozess, der sich gegen eine linke Organisation richtet und deshalb zur Schaffung eines Präzedenzfalles dient. Über das Konstrukt der "Rückfront" in der BRD werden legale Tätigkeiten wie der Verkauf von Zeitungen, Schulungsaktivitäten und Sammeln von Spenden zu kriminellen Handlungen hochstilisiert, da sie "terroristischen" Aktivitäten im Ausland unterstützen sollen.

Die Prozessdelegation bestehend aus dem Schriftsteller Peter O. Chotjewitz (besuchte Mustafa Atalay in der Haft), Dr. med Ralf Binswanger (Psychoanalytiker; erstellte eine Analyse der gerichtlichen Gutachten über Mustafa Atalay), Christian Herrgesell (Gefangenenenbeauftragter vom Komitee für Grundrechte), Carsten Ondreka (Junge Welt), Peter Nowak (Neues Deutschland) und TeilnehmerInnen aus verschiedenen Städten der BRD, Belgien und der Schweiz, versammelte sich gegen 9.00 Uhr vor dem Oberlandesgericht und führte dort zunächst eine kurze Kundgebung durch. Nach der Parole "Freiheit für alle politischen Gefangenen" begab sich die Delegation gegen 9.30 Uhr in den Stammheimer Prozessbunker. Wie in gewohnter Manier fand auch nach über 100 Verhandlungstagen eine gründliche Leibesvisitation am Eingangsbereich statt. Sämtliche Gegenstände wurden abgenommen und in Schließfächern verstaut. Das Mitführen von Stift und Papier zwecks Notizen war ebenfalls weiterhin untersagt. Und, wie üblich wurden die Personalausweise bzw. Pässe ebenfalls abgenommen und kopiert.
Der Verhandlungstag begann mit der Anhörung eines Zeugen vom Landeskriminalamt (LKA), welcher durch die Verteidigung und die Angeklagten zur Telefonobservation befragt wurde. Der LKA-Beamte verwickelte sich in Widersprüche, woraufhin die Verteidigung einen Antrag auf Protokollierung beim Senat stellte. Dieser wurde wie üblich abgelehnt. Der LKA-Beamte gab an, dass die in türkischer Sprache geführten Telefonate von einem türkischen Mitarbeiter übersetzt und die Stimmen bestimmten Personen zugeordnet worden seien. Dieser Mitarbeiter, den der LKA-Beamte als kompetent einstufte, besaß laut eigenen Angaben, die er in den vorherigen Verhandlungstagen abgab, weder eine Ausbildung zum Dolmetscher noch eine Qualifikation zur Sprecherkennung. Aus der Befragung des LKA-Beamten ging außerdem hervor, dass jener Teil der Telefongespräche, die als "unrelevant" errachtet wurden, gelöscht worden waren. Auch dies widersprach den Angaben, die er bei vorherigen Verhandlungstagen getätigt hatte, wonach auch die "unrelevanten" Gespräche noch verfügbar gewesen sein sollten.

Nach einer Unterbrechung für Mustafa Atalay, der seine Medikamente einnehmen musste und einer längeren Mittagspause, verlaß der Senat eine Erklärung der DHKC (Revolutionäre Volksbefreiungsfront) vom April diesen Jahres, in der sie Stellung zu einem Anschlag gegen den ehemaligen Justizminister der Türkei Hikmet Sami Türk nahm. In dieser Erklärung machte die DHKC den ehemaligen Minister für die Gefängnisoperationen vom Dezember 2000 verantwortlich, bei denen 28 politische Gefangene durch Einsatzkräfte der Polizei und des Militärs ermordet wurden. Im Anschluss an diese Erklärung führten einige ProzessbesucherInnen eine Protestaktion im Saal durch: sie standen auf und legten ihre T-Shirts frei, auf denen die Parole "Weg mit §§129" zu lesen war. Der Versuch der Sicherheitskräfte, die ProtestaktivistInnen vom Rest der Delegation zu isolieren, scheiterte, wodurch die Gruppe geschlossen den Saal verlassen konnte. Im Warteraum vor dem Saal erschien unerwartet der vorsitzende Richter und sprach von der "Gefährlichkeit der T-Shirts" und meinte, dass dies sei ein rechtsstaatliches Verfahren sei. Dieser wurde in seiner Rede mehrere Male unterbrochen und das Verfahren als Farce lanciert.

Der Prozess setzte sich damit fort, dass der Angeklagte Ahmet Düzgün Yüksel einen Befangenheitsantrag gegen den Senat stellte, da es in den vergangenen Monaten zu Gesprächen zwischen Verteidigung, Bundeswaltschaft und Senat bezüglich einer möglichen Abtrennung der Verfahren gekommen sei, bei denen nicht alle Verteidiger gleichermaßen in die Gespräche mit einbezogen worden seien. Über diesen Antrag und die damit verbundene weitere Zuständigkeit des Senats wird ein Kontrollgericht entscheiden.

Der Schriftsteller Peter O. Chotjewitz, Dr. med. Ralf Binswanger, Christian Herrgesell vom Komitee für Grundrechte, Carsten Ondreka von der Jungen Welt und eine Vertreterin der Plattform für die Freiheit von Mustafa Atalay beteiligten sich am darauffolgenden Tag an einer Pressekonferenz im Stuttgarter DGB-Gebäude, wo sie ihre Eindrücke schilderten und Erklärungen abgaben.

Weitere Infos:
www.no129.info

Delegation besucht Stammheimer Prozeß

»Plattform für die Freiheit von Mustafa Atalay« bei 129-b-Verfahren. Solidaritätsaktion im Gerichtssaal

Von Carsten Ondreka

Am Dienstag besuchte eine Delegation, organisiert von der »Plattform für die Freiheit von Mustafa Atalay«, ein Verfahren gegen fünf türkische Linke vor dem schwäbischen Oberlandesgericht (OLG) in Stuttgart-Stammheim. Mustafa Atalay, Ahmet Düzgün Yüksel, Ilhan Demirtas, Devrim Güler und Hasan Subasi wird die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung nach Paragraph 129b vorgeworfen. Sie sollen Mitglieder der türkischen Revolutionären Volksbefreiungspartei – Front (DHKP-C) sein. Atalay ist schwer herzkrank, deshalb fordert das Bündnis seine sofortige Freilassung. Die Delegation mit rund 30 Teilnehmern wurde von dem Schriftsteller Peter O. Chotjewitz, dem Schweizer Psychiater Ralf Binswanger und Christian Herrgesell, dem Gefangenenbeauftragten des Komitees für Grundrechte und Demokratie, begleitet.

Die Teilnehmer der Delegation mußten sich peniblen Sicherheitsvorkehrungen unterziehen. Christian Herrgesell kommentierte, daß es nicht verwunderlich sei, wenn der Prozeß angesichts solcher Hürden weitgehend ohne Öffentlichkeit stattfinde. Er kritisierte zudem den Umgang mit den Gefangenen, die bei jeder Verhandlungspause Handschellen oder gar Fußfesseln angelegt bekamen. Peter O. Chotjewitz, der schon 1975 im Stammheimer Prozeß gegen die RAF Beobachter war, monierte vor allem das Verhalten des Strafsenats gegenüber der Verteidigung. Sämtliche ihrer Anträge und Eingaben wurden abgeschmettert.

Das Gericht verlas vor allem seitenweise Texte, darunter Anschlagserklärungen der DHKP-C und Bewertungen des Auswärtigen Amtes. Nach dem Verlesen einer solchen Erklärung stand eine Gruppe der Prozeßbeobachter demonstrativ auf. Auf ihren Hemden war der Schriftzug »Weg mit dem Paragraphen 129« zu lesen. Erwartungsgemäß führte diese Aktion zu einer längeren Pause. Die Prozeßbesucher wurden allesamt des Saales verwiesen, durften aber nach längeren Verhandlungen wieder das Verfahren verfolgen.

Schließlich stellte der Angeklagte Ahmet Yüksel einen Befangenheitsantrag gegen den Senat des OLG. Er begründete das mit der Informationspolitik gegenüber den Anwälten und Angeklagten. Hintergrund waren Gespräche zwischen Anwälten, Bundesanwaltschaft und Strafsenat über eine mögliche Abtrennung der Verfahren der gesundheitlich beeinträchtigten Gefangenen Atalay, Demirtas und Subasi. In diese Gespräche waren nicht alle Verteidiger gleichermaßen einbezogen. Am nächsten Verhandlungstag, dem 14. Juli, muß ein Kontrollgericht über die weitere Zuständigkeit des Strafsenats beschließen. Erst danach wird es eine Entscheidung über eine mögliche Abtrennung der Verfahren geben.

Am Mittwoch nachmittag informierte die Delegation die Öffentlichkeit über den Verlauf des Verfahrens auf einer Pressekonferenz. Die »Plattform für die Freiheit von Mustafa Atalay« wertete die beiden Tage in Stuttgart-Stammheim am Freitag gegenüber junge Welt als Erfolg. Es sei gelungen, den Prozeß und seine Hintergründe bekannter zu machen und den Angeklagten Solidarität zu bekunden.

von Carsten Ondreka, Junge Welt, 10.07.2009

»Kritische Öffentlichkeit ist dringend nötig«

Beobachter schildern Eindrücke im Prozess gegen mutmaßliche DHKP-C-Mitglieder

Von Peter Nowak

Seit über einem Jahr läuft vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart-Stammheim ein Strafverfahren nach dem neuen Paragraphen 129b gegen fünf mutmaßliche Mitglieder der verbotenen türkischen Untergrundorganisation DHKP-C. Beobachter eines Prozesstages schilderten in Stuttgart ihre Beobachtungen

Ahmet Düzgün Yüksel, Ilhan Demirtas, Devrim Güler, Hasan Subasi und Mustafa Atalay. Diese fünf Männer stehen vor Gericht. Die Bundesanwaltschaft wirft ihnen nach Paragraph 129b vor, als Teil der sogenannten »Rückfront« die militante Politik der marxistisch-leninistisch orientierten DHKP-C unterstützt zu haben. Die DHKP-C wird von der EU wie auch von den USA auf der Liste terroristischer Organisationen geführt. Nach dem Paragraph 129b, der nach den Attentaten vom 11. September 2001 eingeführt wurde, macht sich in Deutschland strafbar, wer Mitglied einer terroristischen Vereinigung im Ausland ist oder eine solche unterstützt.

Vieles an dem Prozess ist kritisch (ND berichtete): Nicht unwesentlich etwa basiert die Anklage auf Prozessunterlagen aus der Türkei. Der Verteidigung liegen Hinweise darauf vor, dass Aussagen darin unter Anwendung von Folter entstanden. Zwar dürften die Dokumente in einem solchen Fall nicht im Prozess verwandt werden, die Bundesanwaltschaft will von der Verteidigung jedoch Beweise für die konkreten Verdachtsfälle, bevor sie handelt. Der Prozess verläuft weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit, die Gefangenen befinden sich unter isolierenden Bedingungen in Untersuchungshaft.

Am Dienstag haben etwa 30 Personen aus Deutschland, Belgien und der Schweiz auf Initiative der Plattform »Freiheit für Mustafa Atalay« einen Prozesstag beobachtet. Am Mittwoch berichteten mehrere Delegationsteilnehmer im Stuttgarter DGB-Haus über die Gründe für ihr Engagement.

Bettina Seifert von der Plattform verwies dabei auf mehrere ärztliche Atteste und Stellungnahmen, die bei Atalay neben einer schweren Herzkrankheit auch eine massive posttraumatische Störung diagnostizierten, die durch seine lange Haft in der Türkei und die dort erlittene Folter entstanden seien.

Der Züricher Psychiater Ralf Binswanger, der an der Delegation teilnahm, verwies darauf, dass eine posttraumatische Störung unter Haftbedingungen kaum zu behandeln ist. Für eine erfolgreiche Therapie sei Atalays Entlassung aus dem Gefängnis notwendig. Der Gefangenenbeauftragte des Komitees für Grundrechte und Demokratie, Christian Herrgesell, schloss sich er Forderung an. Obwohl er vor mehr als einem Monat einen Besuchsantrag für Atalay stellte, habe er bis heute keinen Termin bekommen. Das sei auch ein Zeichen dafür, wie schwer es ist, mit den Angeklagten Kontakt aufzunehmen. Hergesell verwies darauf, dass das Komitee für Grundrechte die Abschaffung der Paragraphen 129a und b fordere. Die Praxis habe gezeigt, dass damit auch legale Tätigkeiten in die Nähe des Terrorismus gerückt würden.

In diese Richtung argumentierte auch der Schriftsteller und Jurist Peter O.Chotjewitz. Er könne nicht beurteilen, ob die DHKP-C in der Türkei für die ihr zur Last gelegten Bombenanschläge verantwortlich sei und rechtfertige solche Aktionen nicht, so Chotjewitz. Doch Mustafa Atalay und den anderen Angeklagten würden auch völlig legale Tätigkeiten wie die Übersetzung von Texten, das Organisieren von Festen oder die Verteilung von Flugschriften vorgeworfen. Erst durch den Paragraphen 129b würden diese Aktivitäten zur Unterstützung einer terroristischen Vereinigung erklärt. Chotjewitz erinnerte daran, dass auch in den 1970er Jahren nicht nur RAF-Mitglieder für Anschläge verurteilt, sondern auch kritische Linke und Intellektuelle wie Heinrich Böll als Sympathisanten des Terrorismus diffamiert worden seien.

Carsten Ondreka von der Plattform kritisierte den enormen Sicherheitsaufwand auch bei den Prozessbesuchern. Sie müssten sämtliche Taschen ausleeren, ihre Pässe würden kopiert und nicht einmal ein Kugelschreiber oder ein Blatt Papier dürften in den Gerichtssaal mitgenommen werden. Da müsse man doch den Eindruck haben, jeder Besucher sei auch ein potentieller Beschuldigter, so Ondreka. Die Plattform für die Freilassung für Mustafa Atalay plant weitere Prozessbeobachtungen. »Eine kritische Öffentlichkeit ist dringend nötig, so Plattform-Sprecherin Seiffert.

von Peter Nowak, Neues Deutschland, 10.07.2009

Soli-Delegation fährt nach Stammheim

»Plattform für die Freiheit von Mustafa Atalay« will breiter über 129-b-Verfahren informieren

Von Carsten Ondreka

Am Dienstag und Mittwoch will die neugegründete »Plattform für die Freiheit von Mustafa Atalay« auf die Situation des 52jährigen schwer herzkranken türkischen Gefangenen aufmerksam machen. Gegen ihn und vier weitere Männer läuft zur Zeit ein Prozeß vor dem Oberlandesgericht Stuttgart-Stammheim. Ihnen wird die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung nach Paragraph 129b vorgeworfen. Sie sollen Mitglieder der türkischen Revolutionären Volksbefreiungspartei – Front (DHKP-C) sein. Der Prozeß ist nach Ansicht der Anwälte und der Plattform ein Versuchsfeld für weitere Verfahren gegen mutmaßliche Mitglieder und Symphatisanten ausländischer Befreiungsbewegungen. Vor kurzem begann auch in Düsseldorf ein 129-b-Prozeß gegen zwei türkische Linke. Die in Stuttgart Angeklagten werden in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim unter Sonderhaftbedingungen festgehalten. Auch Mustafa Atalay, der seit November 2006 in Untersuchungshaft ist. Er ist 23 Stunden am Tag allein in der Zelle bzw. auf der Krankenstation. Seine Post wird nur mit großer Verzögerung ausgehändigt. Politische Zeitschriften bekommt er gar nicht. Atalay kann dem Prozeß nur mit Hilfe starker Medikamente folgen. Drei Anträge auf Haftverschonung wurden bislang abgelehnt.

Die Plattform für die Freiheit von Mustafa Atalay hat für Dienstag eine Delegation organisiert, die dem kommenden Verhandlungstag beiwohnen wird. Mit dabei sind der Schriftsteller Peter O. Chotjewitz, der Psychologe Ralf Binswanger und Christian Herrgesell vom Komitee für Grundrechte und Demokratie. Am Mittwoch werden sie auf einer Pressekonferenz im Stuttgarter DGB-Haus (Willi-Bleicher-Straße) über die Situation Mustafa Atalays und den laufenden Prozeß berichten.

Die Solidaritätsplattform will den Druck auf das Gericht erhöhen und Atalays Freilassung erwirken. Darüber hinaus soll die Öffentlichkeit breiter über die laufenden 129-b-Verfahren informiert werden. Daß ein psychisch labiler Doppelagent, der jeweils für türkische und deutsche Geheimdienste tätig war, als Hauptbelastungszeuge in dem Prozeß auftritt, ist zum Beispiel nur wenigen bekannt. Kaum thematisiert wurde in den bürgerlichen Medien bislang auch, daß unter Folter erpreßte Aussagen aus der Türkei als Beweismittel genutzt werden. »Das Verfahren«, so ein Sprecher der Plattform gegenüber junge Welt, »führt viele rechtliche Standards ad absurdum«.

von Carsten Ondreka, Junge Welt, 07.07.2009

»Das ist Stammheim reloaded in schlimmster Form«

129-b-Prozeß gegen mutmaßliche DHKP-C-Mitglieder kaum beachtet. Angeklagte brauchen Solidarität. Ein Gespräch mit Dr. Heinz-Jürgen Schneider

Interview: Markus Bernhardt

* Dr. Heinz-Jürgen Schneider ist Rechtsanwalt in Hamburg. Als Strafverteidiger in politischen Prozessen vertrat er u. a. zahlreiche Kurden sowie seit 1982 Ex-RAF-Mitglied Christian Klar. Zur Zeit vertritt er u. a. Mustafa Atalay im Stammheimer 129-b-Prozeß; www.tribunal-online.de

Sie vertreten Mustafa Atalay, gegen den derzeit vor dem Oberlandesgericht Stuttgart-Stammheim ein 129-b-Prozeß (Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland) geführt wird. Atalay und vier weitere Männer werden beschuldigt, Mitglieder der türkischen Revolutionären Volksbefreiungspartei – Front (DHKP-C) zu sein. Wie beurteilen Sie den bisherigen Verlauf?

Der Prozeß dauert sehr lange. Anfang Juli hatten wir schon mehr als 100 Verhandlungstage hinter uns. Gefühlt weit über die Hälfte aller Zeugen kamen aus dem Polizeiapparat und von Geheimdiensten. Viele haben stundenlang »Vermerke« referiert. Das ist keine Beweisaufnahme.

Die Untersuchungshaft dauert für die fünf Angeklagten seit November 2006 an. Sie wird mit Isolation und Sonderbedingungen durchgeführt. Alle Anträge auf Entlassung blieben ohne Erfolg. Es gibt bei zweien ernste Erkrankungen, die nach Meinung der Verteidigung die Haft- und Verhandlungsfähigkeit aufheben.

Grundsätzlich problematisch und nicht hinnehmbar ist die Verwertung von sogenannten Beweisen aus der Türkei. Sie sind wegen der anhaltenden Folterpraxis dort generell unverwertbar. Es gibt aber ordnerweise Material aus der Türkei, und der Chef-Antiterrorbekämpfer aus Istanbul wurde kurzzeitig als Zeuge gehört – bis die Verteidigung nachweisen konnte, daß gegen ihn zwei Anklagen wegen Folter im Dienst erhoben worden sind.

Mustafa Atalay ist trotz schwerer Herzerkrankung weiterhin inhaftiert. Mit welcher Begründung?

Mein Mandant wurde aus einer Rehaklinik heraus von Mitarbeitern des Bundeskriminalamts verhaftet. Während der Haft erfolgte ein erneuter medizinischer Eingriff, weil zwei Bypässe zum Herzen wieder verstopft waren. Heute bekommt er täglich acht bis zehn Medikamente verabreicht. All das ist gerichtsbekannt. In den Beschlüssen zur Haftfortdauer, zuletzt im April und Mai, wird eine Entlassung aber abgelehnt. Es bestehe weiter Tatverdacht und Fluchtgefahr. Auch einer Entlassung mit diversen Auflagen hat das Gericht nicht zugestimmt.

Warum ist der Prozeß in den Medien nicht ähnlich präsent wie der Fall der »Kofferbomber« oder der »Sauerlandgruppe«?

Darauf wüßte ich auch gerne eine Antwort. Eigentlich ist es doch so: Für die »Stuttgart 5« könnte es eine linke Solidaritätsarbeit geben. Es ist ein »Pilotprozeß«, in dem auch für andere Gruppen in der BRD und die deutsche Solidaritätsarbeit Wichtiges entschieden wird. Und bewaffnete Organisationen gibt es ja nicht nur in der Türkei. Aber die Arbeit zum Prozeß ist sehr begrenzt. Auch die liberale Journaille hätte genug Ansatzpunkte für Berichte: Ein geistig verwirrter und in Deutschland verurteilter Agent des türkischen Geheimdienstes als Kronzeuge, Folterdokumente als Beweismittel, physisch und psychisch Kranke auf der Anklagebank – Stammheim reloaded in schlimmster Form. Aber nichts passiert, obwohl Redaktionen angesprochen worden sind.

Werden die Paragraphen 129a und b des Strafgesetzbuchs unterschätzt?

Den Paragraphen 129a gibt es ja schon seit Jahrzehnten. Der politische Selbsterhaltungstrieb verbietet es, diese Praxis zu unterschätzen. Und das passiert auch nicht. Die Staatsschutzaktionen gegen die sogenannten militante Gruppe, »mg«, und Demonstranten gegen den G-8-Gipfel waren von medialen Berichten begleitet, es gab Solidarität und Proteste. Es ist bekannt, daß der Paragraph 129a ein Ausforschungsparagraph ist. Denn in 90 Prozent werden die Ermittlungen ohne Gerichtsverfahren eingestellt. Und es gibt bei Betroffenen, Gruppen und »Szenen« ein Bewußtsein für eine Bedrohung und – mehr oder weniger gut – auch daraus folgende Verhaltensweisen.

Der 129b besteht seit August 2002. Ich schätze, es gab seitdem knapp 200 Ermittlungsverfahren und wenige Prozesse – fast alle gegen Islamisten. Über das Schlagwort hinaus besteht wenig Kenntnis über eine Gefährdung für linke Strukturen durch diese Vorschrift.

Dabei zeigt der Stammheimer Prozeß, daß es um die Kriminalisierung legaler Tätigkeiten geht. Den dortigen Angeklagten wird die Gründung von Vereinen vorgeworfen, Demoteilnahmen, Organisierung von Schulungen, Geldsammlungen oder das Abhalten von Kulturveranstaltungen. Alles mit der Konstruktion, hier werde die »europäische Rückfront« für die »Terrorkommandos in der Türkei« tätig.

Auch das Verfahren gegen die Journalistin Heike Schrader und ihre Verurteilung quasi als »Presseprecherin der ­DHKP-C in Europa« zeigt, inwieweit Solidaritätsarbeit in Deutschland ins Visier des Staatsschutzes geraten kann.

Sie haben auch das ehemalige Mitglied der »Rote-Armee-Fraktion« Christian Klar vertreten. Welche Bilanz ziehen Sie nach den massiven Medienkampagnen gegen Ihren Mandanten?

Das Wichtigste bleibt ja, daß er seit letztem Dezember draußen ist. Und auch die Paparazzi-Hetzjagd nach dem ersten Foto ist vorbei. Ansonsten bleibt die Erinnerung an die ersten Monate 2007, vom Grußwort für die Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt bis zur Ablehnung des Gnadengesuchs. Eine solche mediale und politische Jauche ist über keine andere Person in den letzten Jahren vergossen worden.

Verfolgt man den Stammheimer Prozeß und die Stimmungsmache gegen Christian Klar, fühlt man sich zeitweise an die Kampagnen gegen Linke in den 1970er Jahren erinnert. Rüstet der Staat wieder auf?

Wann hätte er das letzte Mal abgerüstet? Der Unterschied der Siebziger zu heute ist: Damals gab es mehr plumpe »Kopf-Ab-Hetze«, Computer des BKA waren groß wie Kühlschränke und kein Staatsschützer hätte etwas mit dem Begriff GPS-Ortung verbunden. Heute ist die öffentliche Kampagne differenzierter – was sich bei Bedarf ändern läßt, aber der Bundestrojaner kommt in den PC und GPS-Ortung ist ein normales Fahndungsmittel.

Aus: antirepression, Beilage der jW vom 08.07.2009